Mitglieder kritisieren Pro-Seilbahn-Haltung der Handelskammer

Die Hamburger Handelskammer unterstützt bekanntlich mit ihrem Namen und wohl auch mit nicht unerheblichen Geldbeträgen die Musical-Seilbahn. Erst kürzlich fand in ihren Hallen eine Werbeveranstaltung der Befürworter*innen statt.

Die Handelskammer “vertritt als Kammer ca. 166.000 Mitgliedsunternehmen – vom Ein-Mann-Betrieb bis zum international aufgestellten Konzern.” (Wikipedia) Dabei handelt es sich um eine Pflichtmitgliedschaft. Wer in Hamburg Unternehmer*in oder Selbstständige*r ist, wird automatisch Mitglied der Handelskammer.

Doch längst nicht alle Mitglieder teilen die Positionen des Verbandes, der sie doch vertreten soll – auch nicht in der Seilbahn-Frage.

Heute beispielsweise wurde der Brief eines Hamburger Unternehmers an die Handelskammer bekannt, der sich von der Unterstützung und Bewerbung des Projekts distanziert.

Daniel Plettenberg ist Geschäftsführer und Inhaber der Valor Research & Consulting GmbH. Er kritisiert vor allem die Ignoranz der Kammer gegenüber den in von “Ballermannisierung” betroffenen Stadtteilen und mahnt mehr demokratische Ausgewogenheit an. Wir dokumentieren hier seinen Brief in voller Länge.

 

Sehr geehrter Herr Schmidt-Trenz,

ich möchte hiermit mein Erstaunen und meinen Ärger über die o.g. Versendung von Werbematerial für die sog. Seilbahn ausdrücken.

Wie kann es sein, dass die Handelskammer HH dieses Projekt mit zig tausend Euro unterstützt, indem Sie dem Tourismusverband Hamburg e.V. die Versendung sponsern. Auch wenn Sie persönlich und sogar das Handelskammer-Plenum von diesem Projekt überzeugt sein sollten, so würde ich doch denken, dass es der Handelskammer Hamburg sehr gut zu Gesicht stehen würde, ein wenig mehr Distanz zu wahren. Distanz zu einem zumindest umstrittenen Projekt. Wären diese Tausende Euro nicht sinnvoller und nachhaltiger für die Förderung junger Start-Ups verwendet worden? Ist es wirklich Aufgabe der Handelskammer politische Entscheidungen im Bereich Städtebau zu beeinflussen?

Es ist nicht nur die eindeutige 100%tige Parteinahme für eine Seite, die hier extrem ungut aufstößt. Es zeigt auch, dass Sie sehr wenig Gespür für die Situation der Anwohner vor Ort durch den „Party-Druck“ auf St.Pauli haben. Es wäre vielleicht schön, mehr Touristen für Hamburg zu bekommen, aber die Realität ist ja, dass diese Seilbahn noch mehr Touristen nach St.Pauli locken wird. Klar, dass das Olivia Jones und Corny Littmann* als Gewerbetreibende toll finden. Aber es gibt ja nicht nur Gewerbetreibende, Partyvolk und Touristen hier. Sie haben es offensichtlich vergessen: hier leben und wohnen Menschen.

Seit Jahren gibt es die Tendenz der „Ballermannisierung“ des Viertels St.Pauli. Mit so „sinnvollen“ Werbe-Veranstaltungen wie dem Welt-Astra-Tag* oder der vollidiotischen Großwerbeveranstaltung der Harley-Days und den undenklich vielen anderen Sauf-Party-Verantsaltungen kippt das Viertel. Waren es früher die Fixerbestecke in den Hausfluren, die unseren Kindern zur Gefahr wurden, so sind es jetzt die am Wochenenden endlos zugekotzten und zugepissten Wohnstraßen der Anwohner die mit endlos vielen Glasscherben der von den Besoffenen zerschlagenen Flaschen gespickt sind. Jedes Wochenende ächzt St.Pauli inzwischen unter der Vielzahl der Großveranstaltungen von Messe, Dom, Eurovision, Fußball und vielem mehr.

Ich wohne und arbeite seit 20 Jahren mitten auf St.Pauli, in einer netten pittoresken Seitenstraße, ich habe mir bewusst diesen Stadtteil ausgesucht, ich wohnte bis vor kurzem gerne hier. Seit einigen Jahren aber wird hier das Leben, gerade auch für Familien, langsam unmöglich. Nochmals: Durch die brillante Ideen des Hamburger Senats St.Pauli zum Ballermann der Nation zu machen, kippt das Viertel.

Trotz aufmerksamen Lesens des von Ihnen versendeten Magazins, kann ich hierzu nichts entdecken.

Ich könnte der Seilbahn etwas abgewinnen, wenn St.Pauli an andere Stelle vom Party-Druck entlastet würde. Wenn wir z.B. die besoffenen Horden am Welt-Astratag nach Eppendorf schicken (niemand sagt, dass dies auf St.Pauli stattfinden muss), wenn wir die Partymeute der Cruise-Days nach Blankenese schicken und dort auch die Harley-Days abhalten, wenn die Motorräder dort durch die Gegend knattern. (Haben sich die AnwohnerInnen dort vor Ort nicht gegen den Lärm gewehrt, aber St.Paulianer müssen das aushalten – wieso eigentlich????) Nix und niemand sagt, dass die Harley-Days auf der Reeperbahn stattfinden müssen. Machen Sie den Motorrad-Gottesdienst in Rotherbaum. Aber holen Sie nicht noch mehr Ballermann-Attraktionen nach St.Pauli.

Durch diese Versendung lassen Sie die Handelskammer bei den betroffenen Anwohnern zumindest desinteressiert erscheinen. Und glauben Sie mir, auch hier leben und arbeiten Mitglieder der Handelskammer HH. Ihre Aktion zeigt, dass Sie wenig Fingerspitzengefühl zeigen und offensichtlich wohl eher den Profit einiger weniger privater Anbieter im Sinn haben, als das Gemeinwohl.

Ich bin sehr sehr überrascht über mangelnde Distanz und dem Mangel an Fingerspitzengefühl. Dies stellt sich für mich ich als Desinteresse an den Lebensrealitäten der betroffenen Anwohnern dar, am Desinteresse am Gemeinwohl im Stadtteil. Nun mögen Sie kein Stadtteil-Beauftragter für St.Pauli sein. Klar ist aber auch, dass all die tollen Attraktionen auf St.Pauli nur funktionieren, wenn das Viertel funktioniert.

Ich bin ganz und gar nicht glücklich, dass ich mit meiner Firma in der Handelskammer Hamburg Mitglied sein muss, solange solch eine einseitige Parteinahme von Ihnen betrieben wird, die nur Profit im Sinne hat und den Stadtteil vergisst.

Nebenbei: es würde einer demokratischen Institution immer gut anstehen auch die andere Seite, die andere Meinung zumindest zu Wort kommen zu lassen, selbst in der schönsten Jubel-Postille.

Mit Grüßen – Daniel Plettenberg

 

*Cornelius Littmann hat sich inzwischen von der Seilbahn distanziert und die Verwendung seines Namens in der Werbebroschüre als missbräuchlich bezeichnet.

*Daniel Plettenberg hat uns mitgeteilt,  er habe inzwischen gelernt hat, dass der Welt-Astra-Tag abgeschafft wurde und er hofft, dass die Leser*innen ihm den Fehler verzeihen.